Der Auftrag kam direkt von Bundesrat Adolf Ogi. Im Frühling 2000 schickte er die Experten des AC-Labors Spiez in den Kosovo. Dort mussten sie abklären, wie gross die Gefahr für Swisscoy-Soldaten sei, durch Uran-Munition (Depleted Uranium, DU) verstrahlt zu werden.
Im Juni 2000 legten sie den Bericht dem Verteidigungsminister vor. Bis heute ist er nicht veröffentlicht. Die Militärs klassifizierten ihn als «vertraulich».
«Die Deutschen haben für den Bericht sehr viele Inputs gegeben», begründet Generalstabssprecher Philippe Zahno heute das Vorgehen. Es sei üblich, Informationen anderer Länder nicht bekannt zu geben. «Sonst bekommen wir nichts mehr von denen.»
Solch diskretes Verhalten passt lückenlos in die Informationsstrategie der Schweizer Militärs, wie sie jetzt im Zusammenhang mit der Affäre um Uran-Munition immer wieder deutlich wurde: Informiert wird erst, wenn man nicht mehr anders kann.
Dabei sind die Schlussfolgerungen im klassifizierten Papier alles andere als brisant. «Es gibt keine Hinweise, dass im Kosovo ausserhalb der umschriebenen DU-Einsatzgebiete nennenswerte Urankontaminationen vorliegen», heisst es. Trotzdem empfehlen die Experten im vertraulichen Bericht, «keine DU-Munitionsteile zu berühren oder einzusammeln» und sich «nicht in Wracks von Panzern zu begeben».
Methode VBS: Informieren, wenn es nicht mehr anders geht. Auch das AC-Labor in Spiez gab seine Informationen nur nach und nach und häppchenweise bekannt.
Zuerst erfuhr man nach Recherchen der «Rundschau», dass in der im Kosovo gefundenen Munition auch Uran-236 gemessen wurde, also Uran aus Abfällen von Atomkraftwerken. Jetzt bestätigt Physiker Max Keller vom AC-Labor, dass auch Uran-232 gefunden wurde. Uran-232 kann ebenfalls nur aus Abfällen von Atomkraftwerken stammen. Das heisst: Die Nato-Truppen verschossen über Bosnien und dem Kosovo atomaren Abfall in ihrer Munition. «Wenn das Uran-236 eine Sensation sein soll», sagt Physiker Keller, «dann ist das Uran-232 genauso eine Sensation.»
Das Vertrauen in die Militärs schwindet, denn sie müssen ihre Informationen immer wieder korrigieren - oder korrigieren lassen.
Zuerst hiess es, durch Uran-Munition sei kein Schweizer Soldat gefährdet. Dann platzte der «SonntagsBlick» mit der Meldung heraus, dass ein Hauptmann, der für die Gelbmützen in Bosnien stationiert war, an Leukämie starb. Auch wenn ein Zusammenhang unwahrscheinlich ist, das Vertrauen in die Behörden war angeknackst.
Nicht genug: Zuerst wurde versichert, in der Schweiz sei nie Uran-Munition verschossen worden. Dann wurde wiederum durch den «SonntagsBlick» bekannt, Oerlikon-Contraves habe in den Sechzigerjahren Tests mit Uran-Munition auf einem Schiessplatz im Kanton Schwyz durchgeführt. Ob überhaupt die nötigen Bewilligungen des Bundes für diese Schiessversuche vorlagen, wissen die Behörden bis heute nicht. Einen Tag später doppelte der «Tages-Anzeiger» nach, der zuständige Betriebschef sei an Leukämie erkrankt. Auch wenn ein Zusammenhang dementiert wird, an Zufälle mögen immer weniger glauben.
Nicht genug: Auch der Bund musste plötzlich bekannt machen, dass seine Gruppe Rüstung 1980 in der damaligen eidgenössischen Waffenfabrik in Bern Schiessversuche mit uranhaltiger Munition durchgeführt hatte. Hugo Wermelinger, Sprecher der Gruppe Rüstung, kann nicht einmal definitiv sagen, dass nicht noch mehr bekannt wird. «Ich kann das nicht ausschliessen. Aber wir haben keine Kenntnis davon.»
Am Dienstag gingen die Militärs wieder einmal vor die Presse, um umfassend zu informieren. Und wurden gleich ad absurdum geführt. Während sie berichteten, sie hätten die Lage im Griff, neue Massnahmen drängten sich nicht auf, kamen aus Zürich bereits neue beunruhigende Nachrichten. Für die ETH Zürich war klar: Wenn in der Uran Munition Uran-236 gefunden wurde, dann müsse höchstwahrscheinlich auch Plutonium vorhanden sein.
Eine dramatische Wende. Sollte das wirklich zutreffen, so wären Menschen in Bosnien und im Kosovo einem vielfach höheren Krebsrisiko ausgesetzt gewesen als bisher angenommen. Meldungen über den Zusammenhang zwischen Leukämiefällen und Uran-Munition würden plötzlich nicht mehr so unwahrscheinlich klingen wie bisher behauptet. «Im Gegensatz zum Uran ist es viel wahrscheinlicher, dass Plutonium Leukämie auslöst», sagt Paul Roth, Kern- und Medizinphysiker beim deutschen GSF-Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit. Experten gehen davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, durch Plutonium an Krebs zu erkranken, bis zu einer Million Mal höher ist als beim Uran.
Bei ihrer sensationellen Aussage ging die ETH von einer einfachen Annahme aus. Wenn in einer Probe Uran-236 gefunden wird, ist mit höchster Wahrscheinlichkeit auch Plutonium vorhanden. Uran-236 kommt nicht in der Natur vor, es muss aus einem Atomkraftwerk stammen. Bei der Energieproduktion im Atomkraftwerk entsteht immer Plutonium - und dies kann beim Rezyklieren des Urans nie hundertprozentig herausgefiltert werden. «Dass wir Uran-236 gefunden haben», sagt Physiker Keller vom AC-Labor Spiez, «ist nicht ein Indiz, sondern ein Beweis dafür, dass ein Teil dieses Urans schon einmal in einem Reaktor drin war und dass es aus den abgebrannten Brennstäben wiederaufbereitet und rezykliert wurde.»
Dass sich in der Uran-Munition auch Plutonium befinden könnte, war auch den Spezialisten im AC-Labor in Spiez bekannt. Doch erst als die ETH dies öffentlich machte, mochte auch sie bestätigen.
Es sei hinlänglich bekannt, dass Spuren von Plutonium in Uran-Munition vorhanden sein könnten, meinte ein Sprecher des AC-Labors in Spiez. Doch wenn alles schon bekannt war, weshalb werden im Faltblatt über die DU-Munition vom Januar 2000 nur die natürlichen Uran-Isotope erwähnt, kein Wort aber von Abfall-Uran aus Atomkraftwerken?
Man darf auf die nächsten Enthüllungen gespannt sein. Technisch wäre es problemlos möglich, bestätigen die AC-Experten in Spiez, herauszufinden, in welcher Anlage das Uran aufgearbeitet wurde, bevor es in die Uran-Munition gelangte. Noch besser: «Möglicherweise könnte es sogar Hinweise auf den Reaktor geben», sagt Physiker Keller.
Ein Trost bleibt den Militärs: Immerhin stehen die Politiker hinter dem VBS und seiner Informationspolitik. Ausgerechnet Boris Banga, Solothurner SP-Nationalrat und Präsident der Sicherheitspolitischen Kommission (SIK), lobte die «die sehr offene und umfassende Information», die der neue Bundesrat Samuel Schmid den SIK-Mitgliedern gegeben hatte.
Allerdings musste Banga eingestehen, dass er weder etwas über die neusten Erkenntnisse der ETH Zürich zur Uran-Munition noch von den Schiessversuchen der Gruppe Rüstung wusste. Ob er sich denn über die Folgen der Einsätze mit Uran-Munition keine Sorgen mache, wurde er an der Medienkonferenz im Bundeshaus gefragt. Doch, doch, beeilte er sich zu versichern. «Das Leben ist eine Tragik.»
Das
AC-Labor in Spiez sieht es prosaischer - und prophetischer. Über dem
Titel seines im Januar 2000 herausgegebenen Faltblattes zur Uran-Munition
steht in kleinen Lettern: «Errare humanum est» - irren ist
menschlich.
In Serbien könnte auch das Bombardement von Fabriken und Ölraffinierien schlimme Folgen haben.
Professor Zivorad Vukovic sagt es ohne Umschweife: «Wenn diese Diskussion über die Uran-Munition im Westen nicht losgebrochen wäre, würde hier keiner darüber reden. Dabei hätten wir allen Grund, besorgt zu sein, aber eben nicht wegen des Urans.»
Vukovic weiss, wovon er spricht. Seit 39 Jahren arbeitet er im jugoslawischen Institut für Nuklearwissenschaften von Vinsa. Er kennt sich aus mit Strahlen, Verstrahlung und dessen Folgen für die Gesundheit. Vukovic hält aber die Debatte um die radioaktive Verseuchung durch Nato-Munition für verfrüht, wenn nicht für verfehlt. «Ob diese Munition überhaupt den Menschen schadet, wird sich spätestens in fünf Jahren zeigen.»
Bisher jedenfalls haben die jugoslawischen Behörden sechs Stellen abgesteckt, die eine erhöhte radioaktive Strahlung aufweisen. Sechs Stellen, die zusammen rund zwölf Hektar Land ausmachen. Sie liegen allesamt im Süden des Landes, die meisten an der Grenze zum Kosovo.
Gefahr für die Gesundheit droht laut Vukovic aus ganz anderer Richtung: von dem petrochemischen Komplex und der Düngemittelfabrik von Pancevo sowie der Ölraffinerie von Novi Sad. Die Nato hatte diese Fabriken während des Kosovo-Krieges zu legitimen Zielen erklärt und mehrmals bombardiert.
Der Direktor der Petrochemie Pancevo, Dmitar Krivokuca, sagt heute: «Wer immer entschieden hat, diese Fabrik zu bombardieren, muss verrückt gewesen sein.» Verstehen kann das, wer den gewaltigen Komplex sieht und weiss, was alles an gefährlichen Chemikalien hier lagert. Die Direktion der Fabrik hat einen Monat nach dem Kriegsende im Juli 1999 eine Schätzung der Schäden zusammengestellt. Das dürre Blatt Papier liest sich wie eine Liste des Schreckens: 460 Tonnen Krebs erregendes Vynil-Chlorid sind während eines einzigen Bombenangriffes in die Luft freigesetzt worden; 170 000 Kubikmeter Wasser sind verseucht worden, unter anderem von 200 Kilogramm Merkur und einer Tonne hochgiftigem Ethylindichlorid. Hinzu kommt, dass Tausende Tonnen giftiger Chemikalien in die Erde versickert und von dort ins Grundwasser gelangt sind. Soweit es die Verantwortlichen der Petrochemie wissen, sind die Chemikalien noch nicht in die Wasserversorgung der 80 000-Einwohner-Stadt Pancevo eingeflossen – sicher sind sie sich aber nicht. Genauso wenig weiss man, wie viel Öl in die Donau und ihre Zuträger geflossen ist.
In Novi Sad war ebenfalls einen Ölraffinerie bombardiert worden. Auch dort entwich eine unbekannte Menge Öl in die Donau. Aus Novi Sad häufen sich Berichte, dass das Trinkwasser ungeniessbar ist.
Die Folgen dieser Umweltkatastrophe sind klar, aber ihre unmittelbaren Auswirkungen können die jugoslawischen Behörden nicht genau feststellen. Denn dazu fehlen ihnen die Daten und Statistiken. In vielen Fällen können sie nicht sagen, ob es eine deutliche Zunahme bestimmter Krankheiten gibt, weil ihnen die Vergleichszahlen fehlen. Alle Angaben verbleiben daher im Ungefähren. Und das nährt die Sorge nur.
Die Verantwortlichen vor Ort wissen, was zu tun ist: «Wir müssen schlicht den gesamten Komplex reinigen», sagt Krivokuca, «aber dazu fehlt uns das Geld.»
Hilfe aus dem Westen kam bisher wenig. Eine Uno-Umweltkommission war in Pancevo, konnte aber bisher auch nicht mehr tun als den Schaden und die Auswirkungen auf die Bevölkerung schätzen.
Das
war auch schon alles. Im Moment steht die Uran-Munition im Zentrum der
Aufmerksamkeit.
Peter
Wicky