© Facts; 2001-01-25; Seite 36
Schweiz
Waffen
Erhärteter Verdacht
Uran-Munition - Die Suva klärt die Leukämie-Erkrankungen bei Oerlikon Contraves ab.
Ähnliche Fälle geben auch in Italien zu reden.
Von Walter Hauser, Doris Ladstaetter und Daniel Röthlisberger

Zweieinhalb Jahre hatte sich Peter Z. aus Gross SZ gegen die heimtückische Krankheit gewehrt - vergebens. Im November 1989 starb er erst 49-jährig an Krebs. Z. war Chauffeur bei der Waffenschmiede Oerlikon Contraves. Über zehn Jahren arbeitete er auf dem Ochsenboden, dem Schiessplatz seines Arbeitgebers im Kanton Schwyz. Er verlud Munition und transportierte sie zu den anderen Schiessplätzen der Firma am Oberalp oder im Wallis.

Heute fragt sich seine Witwe, ob ihr Mann vielleicht damals mit Uran-Munition in Kontakt gekommen ist. «Ich habe keine Ahnung, um was für Munition es sich damals handelte.» Peter Z. ist einer von inzwischen sieben Personen, die auf dem Ochsenboden tätig waren und nachweislich entweder an Leukämie oder Krebs erkrankt sind. Sechs von ihnen sind gestorben.

Aber nicht nur in der Schweiz fragen sich Angehörige und Betroffene, ob Krebsfälle etwas mit Uran-Munition zu tun haben könnten. Vor allem in Italien, wo die Nato zahlreiche Militärbasen unterhält, häufen sich Fälle von Soldaten und zivilen Militärangestellten, die an Krebs erkrankt sind.

Sechs Jahre lang war Giuseppe Pintus auf dem Friedhof in Assemini ein Toter unter vielen gewesen. Ein tragischer Fall, ein Soldat, der mit 22 Jahren in der Krebsabteilung des Spitals von Cagliari starb. Heute fragt sich sein Bruder Gianni, 32, mit welcher Munition sein Bruder vom Oktober 1990 bis zum Ausbruch der Leukämie im August 1991 als Scharfschütze tatsächlich geschossen hat. «Er hat von Projektilen erzählt, die einen Meter dicken Stahl durchbohren konnten», sagt er, «wie die, die in Bosnien verschossen wurden.»

In der Schweiz will man es jetzt genauer wissen. So lässt die Schweizerische Unfallversicherung (Suva) den Fall eines ehemaligen Ochsenboden-Schiessleiters, der an Leukämie erkrankt ist, untersuchen. «Unsere arbeitsmedizinische Abteilung klärt ab, welchen Strahlenbelastungen, welchen Stoffen und Materialien dieser Mann in seinem Leben ausgesetzt war und ob die Belastungen einen Zusammenhang mit der uranhaltigen Munition haben könnten», sagt Suva-Sprecher Gaston von Glutz.

Je nach Ergebnis will die Suva auch Mitarbeiter der Firma Oerlikon Contraves untersuchen, die direkt an den Schiessversuchen mit uranhaltiger Munition beteiligt waren. Contraves hat der Suva inzwischen die Namen aller Direktbeteiligten zugestellt. «Wir haben eine Liste mit den Namen bekommen», sagt von Glutz.

Noch diese Woche will Oerlikon Contraves den Gesundheitsbehörden von Schwyz einen Bericht über ihre Schiessversuche mit uranhaltiger Munition und die damals beteiligten Personen übergeben. Klar ist bisher, dass Oerlikon Contraves in den Siebzigern auf dem Ochsenboden und in einem firmeneigenen Schiesskanal in Genf uranhaltige Munition verschossen hat. Möglich ist aber auch, dass Contraves im mittlerweile abgebrochenen Schiesskanal am Firmenhauptsitz in Zürich-Oerlikon Uran-Munition verschossen hat. «Wir überprüfen das», sagt Sprecherin Elisabeth Boner.

Der Fall von Giuseppe Pintus hat in Italien einen weiteren Verdacht geweckt: Wurde auch auf den zahlreichen Nato-Schiessplätzen mit uranhaltigen 30-Millimeter-Projektilen geschossen? Und damit nicht nur das militärische und zivile Personal, sondern auch die Bevölkerung radioaktiver Strahlung ausgesetzt?

Schon im Oktober letzten Jahres hatte Falco Accame, Ex-Präsident der Verteidigungskommission im italienischen Parlament, diesen Verdacht geäussert. «Wenn sie auf den Schiessplätzen die Wirksamkeit ihrer panzerbrechenden Munition testen wollen, warum sollten sie dann mit Gummigeschossen üben?» Das italienische Militär reagierte bislang mit einer Flut von Dementis.

Anders das britische Verteidigungsministerium, das Anfang Januar zugab, seit Jahren zu Übungszwecken bei Kirkcudbright in Schottland sowie im nordwestenglischen Eskmeals Uran-Munition von Panzern auf Strände und in die See gefeuert zu haben. Letzte Woche gab auch der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping zu, es sei auf deutschen Schiessplätzen zum «irrtümlichen Verschuss von Munition mit abgereichertem Uran gekommen».

In Italien bekamen Anwohner und Umweltorganisationen wie die sardische Gettiamo le Basi jahrelang widersprüchliche oder keine Erklärungen auf ihre Fragen. Warum ist die Durchfahrt bestimmter Zonen des riesigen Schiessplatzes von Capo Teulada selbst für Militärpersonal ständig gesperrt? Warum widersetzt sich das Militär einer Umweltprüfung der Basen?

Mehr als die Hälfte aller militärischen Einrichtungen, die von der Nato in Italien genutzt werden, befinden sich auf sardischem Boden. Allein der Schiessplatz von Capo Teulada erstreckt sich über 7000 Hektar Land, über 40 000 Hektar Wasser und 20 Kilometer Küste - es ist das grösste Areal der Nato in Europa, auf dem ein kompletter Krieg zu Wasser, zu Lande und in der Luft simuliert werden kann. «Ein Laboratorium für apokalyptische Szenarien», nannte eine sardische Tageszeitung den künstlichen Kriegsschauplatz.

Doch erst jetzt, nach wochenlanger Kampagne im Windschatten der Balkan-Syndrom-Hysterie, regt sich allmählich Widerstand in der Bevölkerung, in den Gemeinderäten und in der regionalen Verwaltung Sardiniens. «Das Geld, das diese Basen der Region liefern, hat den meisten den Mund gestopft», sagt Mariella Cao von «Gettiamo le Basi». Lieber lebten die Sarden seit Jahren mit der täglichen Demütigung, dass von September bis Juni Nato-Truppen über ihre Köpfe hinweg nach Lust und Laune herumballerten und nur in den Sommermonaten aus Rücksicht auf die Badegäste den Betrieb einstellten.

Dieselben Probleme kennt man im norditalienischen Aviano, wo die 16. Einheit der US Air Force ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Von hier aus starteten die A10-Bomber mit uranhaltigen Geschossen Richtung Bosnien, Serbien und Kosovo.

Antonio*, 27, aus Pordenone arbeitet seit zwei Jahren als ziviler Angestellter in der Basis von Aviano. Es war ein Glücksfall, diese Stelle zu bekommen, schliesslich bezahlen die Amerikaner bessere Löhne als die italienischen Arbeitgeber der Region. Als Ärzte im Januar 2000 in seinem Hals ein Lymphom diagnostizierten, war es die Arbeit, «die mich von den Gedanken an den Tod ablenkten», sagt er.

Die Idee, dass das Geschwür etwas mit seiner Arbeit zu tun haben könnte, kam Antonio erst, als ganz Italien über das Balkan-Syndrom diskutierte. Auf dem Balkan war Antonio nie gewesen, dafür aber auf dem Schiessplatz von Dandolo, acht Kilometer von der Basis in Aviano entfernt, wo er von 1995 bis 1996 seinen Militärdienst leistete. Zur selben Zeit trainierten dort die A10-Piloten ihre Einsätze für Bosnien, wie sie es schon 1990 vor dem Golfkrieg getan hatten. Heute hat Antonio sechs Monate Chemotherapie und ein Jahr Krankheit hinter sich. Die Krankheit hat er vorerst besiegt. «Ich hoffe, mit meinem Beispiel vielen anderen Mut zu machen», sagt Antonio, der lieber anonym bleibt, weil er Angst hat, seine Stelle zu verlieren.

In Dandolo, dem 400-Seelen-Dorf am Rande des ehemaligen Nato-Schiessplatzes, hatten sich die Menschen daran gewöhnt, dass sie ihre Telefongespräche beenden mussten, wenn die Überschallflieger zum Üben kamen. Aber von der unsichtbaren Uran-Gefahr hatten sie nie zuvor gehört. Vor zehn Tagen rief der Bürgermeister eine Krisensitzung ein - es gab zahlreiche Fragen und keine Antworten, denn kein Militärvertreter liess sich blicken. Wieder erfuhren die Bewohner von Dandolo nicht, warum der vor zwei Jahren geschlossene Schiessplatz noch immer gesperrtes Gebiet ist. Und ob die Geschosshülsen, die sie im Laufe der Jahre heimlich auf dem Gelände gesammelt hatten, gefährlich strahlen.

Gewissheiten gibt es keine. Nur Vermutungen. Für Roberto De Bortoli von der Umweltschutzorganisation Osservatorio Etico Ambientale sind die intensiven Flug- und Schiessübungen mit Uran-Munition auf den insgesamt sechs Schiessplätzen in der Umgebung von Pordenone mit schuld an der hier im nationalen Vergleich um 25 Prozent höheren Rate an Krebstoten. Im Krebszentrum von Aviano hingegen arbeiten die Ärzte seelenruhig an einer langfristigen Studie im Auftrag der Regionalverwaltung, die nicht nur die Krebstoten erfassen soll, sondern alle Krebserkrankungen. «Erst dann können wir sagen, ob einzelne Gemeinden, in denen es solche Übungsplätze gibt, stärker betroffen sind», sagt der mit der Studie betraute Arzt Gianni Vicario. Die Daten werden erst im Sommer verfügbar sein.

Seit Anfang Januar stellt auch ein Staatsanwalt Untersuchungen auf dem ehemaligen Schiessplatz von Dandolo an. Er soll klären, ob es dort erhöhte radioaktive Werte gibt. Finden wird er nichts, sagt Staatsanwalt Federico Facchi schon heute: «Wir haben grosse Zweifel daran, dass dort überhaupt mit uranabgereicherter Munition geschossen wurde. Und wenn, dann sind die Werte heute nicht mehr feststellbar.»

Unterdessen gibt ein weiterer Leukämie-Fall eines italienischen Soldaten zu reden, der weder in Somalia noch im Golfkrieg oder auf dem Balkan war. Lorenzo Michelini starb schon 1977, an einer «derart fulminanten Leukämie», wie die Ärzte damals seiner Familie sagten, «wie sie nur durch radioaktive Strahlen ausgelöst werden konnte». Lorenzo Michelini war während seines Wehrdienstes auf den Nato-Schiessplatz Perdasdefogu in Sardinien geschickt worden, um dort Patronenhülsen aufzusammeln. Nach drei Monaten Dienst brach die Krankheit aus, nach zwei Monaten war der damals 22-Jährige tot. Seitdem haben die Sarden eine weitere Frage an die Militärs offen: Übte die Nato schon in den Siebzigerjahren auf der Ferieninsel das Schiessen mit Uran-Munition?

«Wenn sie die Wirksamkeit ihrer panzerbrechenden Munition testen wollen, warum sollten sie dann mit Gummigeschossen üben?»

Falco Accame, Ex-Präsident der Verteidigungskommission im italienischen Parlament

Tatort Schweiz: Auf dem Schiessplatz von Oerlikon Contraves auf dem Ochsenboden SZ wurde Uran-Munition getestet. Heute gibt es unter dem Personal mehrere Leukämie-Fälle.

Tatort Italien: A10-Bomber der US Army starteten von italienischen Flughäfen aus mit uranhaltigen Geschossen Richtung Bosnien, Serbien und Kosovo. Heute gibt es unter dem Bodenpersonal mehrere Leukämie-Fälle.

Test-Gelände: Der riesige Nato-Waffenplatz Capo Teulada auf Sardinien. Das Militär widersetzte sich jahrelang einer Umweltprüfung.

Munitions-Tests: Zerschossene Metallplatten bei Oerlikon Contraves.

Cluster-Munition
Unter Beschuss
Die Schweiz will ein Verbot der tückischen Cluster-Munition, hat sie aber selbst im Arsenal.

In der Schweiz wird jetzt - im Zuge der Diskussion um die Uran-Munition - auch andere Munition in Frage gestellt. Verteidigungsminister Samuel Schmid hat der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats (SiK) zugesichert, er werde die Gefährlichkeit von Wolfram abklären lassen. Wolfram wird heute in zahlreichen Munitionstypen verwendet und gilt nach dem Abschuss als hochgiftig.

Unter Beschuss gerät aber auch die Cluster-Munition. Die Schweiz will sich an einer Konferenz zur inhumanen Waffen-Konvention, die Mitte Dezember dieses Jahres in Genf stattfindet, für ein Verbot dieser Munition einsetzen. Dies geht aus einem internen Papier des Generalstabs hervor. Allerdings hat die Schweizer Forderung eine Einschränkung. Verboten werden soll nur jene Clus- ter-Munition, die keinen Selbstzerstörungs-Mechanismus hat. Die Cluster-Munition teilt sich nach dem Abschuss in zahlreiche kleinere Sprengkörper (Bomblets). Seit Ende des Kriegs in Kosovo wurden 250 Personen - vor allem Kinder - durch den Kontakt mit Blindgängern getötet oder verletzt. Die Blindgängerrate betrug bis zu 30 Prozent.

Auch die Schweiz verfügt über solche Munition. Seit 1988 wurde für über 600 Millionen Franken Cluster-Munition angeschafft. 118 000 Stück für die Artillerie und 27 000 Stück für schwere Minenwerfer. Dies bestätigt die Gruppe Rüstung. Allerdings spricht man im Verteidigungs-Departement lieber von Kanisater-Munition und betont, die Munition sei nicht mit jener in Kosovo zu vergleichen: dank Selbstzerstörungs-Mechanismus habe sie eine Blindgängerrate von bloss «ein bis zwei Prozent».

Foto: Steffen Schmidt/KeystoneFoto: APFotos: Dino Fracchia/Grazia Neri, Steffen Schmidt/Keystone, Yoshiko Kusano/Keystone, Tany Tiberino/Grazia Neri



Von Doris Ladstaetter

 Sechs Jahre lang war Giuseppe Pintus auf dem Friedhof von Assemini ein Toter unter vielen gewesen. Ein tragischer Fall, ein Soldat, der mit 22 Jahren auf einer Liege in der Krebsabteilung des Krankenhauses von Cagliari aufgehört hatte zu leben. "Er war ein schöner Mann, 1,80 Meter gross und so durchtrainiert", erzählt sein Bruder Gianni, 32. Ihm hatte Giuseppe vor seinem Tod anvertraut: "Ich bin sicher mit gefährlichem Material auf dem Schiessplatz in Kontakt gekommen, vielleicht mit radioaktivem Material". Gianni hatte diesen Satz vergessen.

Bis zum 21. Dezember 2000, dem Tag, an dem der italienische

Verteidigungsminister Sergio Mattarella kleinlaut zugeben musste, dass die Nato über Bosnien, Serbien und Kosovo doch mit abgereichertem Uran versehene Projektile abgeschossen hatte. Da hatte die Öffentlichkeit bereits den achten an Leukämie gestorbenen Soldaten gezählt.

 An diesem Tag begann sich Gianni Pintus zu fragen, mit welchen Waffen sein Bruder vom Oktober 1990 bis zum Ausbruch der Leukämie im August 1991 als Scharfschütze tatsächlich geschossen hatte. "Er hat von Projektilen erzählt, die ein Meter dickes Stahl durchbohren konnten", sagt er, "wie die, die in Bosnien abgeschossen wurden." Doch Giuseppe Pintus war weder im Golfkrieg, noch in Bosnien gewesen. Er hatte nur auf dem Nato-Schiessplatz von Capo Teulada im Süden Sardiniens seinen Wehrdienst geleistet.

 Seit Giuseppe Pintus Fall bekannt wurde, verdächtigt die italienische Öffentlichkeit das Militär einer neuen Lüge: Wurde auch auf den zahlreichen Nato-Schiessplätzen in Italien mit den mit abgereichertem Uran versehenen 30-Millimeter-Projektilen geschossen? Und damit nicht nur das militärische und zivile Personal, sondern auch die Bevölkerung radioaktiver Strahlung ausgesetzt?

 Schon im Oktober letzten Jahres hatte Falco Accame, der frühere Präsident der Verteidigungskommission im italienischen Parlament, diesen Verdacht geäussert. Das italienische Militär reagierte mit einer Flut von Dementis.

 Anders das britische Verteidigungsministerium, das bereits Anfang Januar zugab, seit Jahren zu Übungszwecken bei Kirkcudbright in Schottland sowie im nordwestenglischen Eskmeals Uran-Munition auf Strände und in die See zu feuern. Letzte Woche gab auch der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping zu, es sei auf deutschen Schiessplätzen zum "irrtümlichen Verschuss von Munition mit abgereichertem Uran gekommen."

"Wenn sie auf den Schiessplätzen die Wirksamkeit ihrer panzerbrechenden Munition testen wollen, warum sollten sie dann mit Gummigeschossen üben?", fragt sich Falco Accame, "es gab keinen Grund, nicht mit Uran-Munition zu schiessen, schliesslich ist es nicht verboten."

 Widersprüchlich klingende oder keine Erklärungen aus den Basen bekam auch die sardische Organisation "Gettiamo le Basi" seit Jahren zu hören. Jahre, in denen sie eine Anfrage nach nach der anderen stellte: Warum ist die Durchfahrt bestimmter Zonen des riesigen Aeareals von Capo Teulada selbst für das Militärpersonal ständig gesperrt? Warum widersetzt sich das Militär seit Jahren einer Umweltprüfung der Basen?

 Mehr als die Hälfte aller militärischen Einrichtungen, die von der Nato in Italien genutzt werden, befinden sich auf sardischem Boden. Allein der Schiessplatz von Capo Teulada erstreckt sich über 7000 Hektar Land, über 40 000 Hektar Wasser und 20 Kilometer Küste - es ist das grösste Areal der Nato in Europa, auf dem ein kompletter Krieg zu Wasser, zu Lande und in der Luft simuliert werden kann. "Ein Laboratorium für apokalyptische Szenarien", nannte eine sardische Tageszeitung den künstlichen Kriegsschauplatz.

Doch erst jetzt, nach wochenlanger Kampagne im Windschatten der Balkan-Syndrom-Hysterie, regt sich allmählich Widerstand in der Bevölkerung, in den Gemeinderäten und in der regionalen Verwaltung Sardiniens. "Das Geld, das diese Basen der Region liefern, hat den meisten den Mund gestopft", sagt Mariella Cao. Lieber lebten die Sarden seit Jahren mit der täglichen Demütigung, dass von September bis Juni Nato-Truppen über ihre Köpfe hinweg nach Belieben schossen und flogen und nur in den Sommermonaten mit Rücksicht auf die Badegäste den Betrieb einstellten.

 Diesselben Probleme kennt man im norditalienischen Aviano, wo die 16. Einheit der US-Air Force ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Von hier aus starteten die A10-Bomber mit uranabgereicherten Geschossen in Richtung Bosnien, Serbien und Kosovo. Valentino De Piante, Mitglied der Comipar, eine Kommission, die die anstehenden Probleme des Basis-Gebietes klären soll, vermutet, dass Enteiser-Flüssigkeiten, Munitionsreste sowie Öl, Benzin und Schmiermittel im Erdreich unter der Basis versickern. Beweise dafür hat er nicht, denn obwohl die Hoheit über das Territorium der Basis laut Vertrag bei den Italienern liegt, verweigern die amerikanischen Militärs den Mitgliedern der 40köpfigen Comipar und der Sanitätskontrolle den Zutritt zum Areal.

 Die Proteste aus der Bevölkerung halten sich auch in Aviano in Grenzen. "Sie haben uns längst gekauft", sagt Valentino De Piante. Tatsächlich ist die von 9000 Amerikanern bewohnte Basis längst zur wirtschaftlichen Lebensader für das 10 000-Einwohner-Städtchen Aviano geworden. Man hat sich in den letzten sieben Jahren, in denen die Basis ständig ausgebaut wurde, nicht nur an den Fluglärm sondern auch an die Dollars gewöhnt: Wann immer eine F-16 über das Dach donnert und der Sound der Überschallgeschwindigkeit die Dachziegel zum Bersten bringt, rechnen sich viele Bewohner aus, wieviele Dollars sie dieses Mal für die Sanierung von den Amerikanern bekommen.

 Antonio*, 27, aus Pordenone arbeitet seit zwei Jahren als ziviler Angestellter in der Basis von Aviano. Es war ein Glücksfall, diese Stelle zu bekommen, schliesslich bezahlen die Amerikaner bessere Löhne als die italienischen Arbeitgeber der Region. Als Ärzte im Januar letzten Jahres in seinem Hals ein Lymphom diagnostizierten, war es die Arbeit, "die mich von den Gedanken an den Tod ablenkten", sagt er.

 Die Idee, dass ihm diese Arbeit das Geschwür eingebracht haben könnte, kam Antonio erst, als ganz Italien über das Balkan-Syndrom diskutierte. Auf dem Balkan war Antonio nie gewesen, dafür aber auf dem Schiessplatz von Dandolo, acht Kilometer von der Basis in Aviano entfernt, wo er von 1995 bis 1996 seinen Militärdienst leistete. Zur selben Zeit trainierten dort die A10-Piloten ihre Einsätze in Bosnien, wie sie es schon 1990 vor dem Golfkrieg getan hatten. Heute hat Antonio sechs Monate Chemotherapie und ein Jahr Krankheit hinter sich. Seine Krankheit hat er vorerst besiegt. "Ich hoffe, mit meinem Beispiel vielen anderen Mut zu machen", sagt Antonio, der lieber anonym bleibt, weil er Angst hat, seine Stelle zu verlieren.

 In Dandolo, dem 400-Seelen-Dorf am Rande des ehemaligen Nato-Schiessplatzes, hatten sich die Menschen daran gewöhnt, dass sie ihre Telefongespräche beenden mussten, wenn die Überschallflieger zum Üben kamen. Aber von der unsichtbaren Uran-Gefahr hatten sie nie zuvor gehört. Vor zehn Tagen rief der Bürgermeister eine Krisensitzung ein - es gab zahlreiche Fragen und keine Antworten, denn kein Militärvertreter liess sich blicken. Wieder erfuhren die Bewohner von Dandolo nicht, warum der vor zwei Jahren geschlossene Schiessplatz noch immer gesperrtes Gebiet ist. Und ob die Geschosshülsen, die sie im Laufe der Jahre heimlich auf dem Gelände gesammelt hatten, gefährlich strahlen.

 Gewissheiten gibt es keine. Nur Vermutungen. Für Roberto De Bortoli von der Umweltschutzorganisation «Osservatorio Etico Ambientale» sind die intensiven Flug- und Schiessübungen mit Uran-Munition auf den insgesamt sechs Schiessplätzen in der Umgebung von Pordenone mit Schuld an der hier im nationalen Vergleich um 25 Prozent höheren Rate an Krebstoten.

 Im Krebszentrum von Aviano hingegen arbeiten die Ärzte seelenruhig an einer langfristigen Studie im Auftrag der Regionalverwaltung, die nicht nur die Krebstoten erfassen soll, sondern alle Krebserkrankungen, und zwar Gemeinde für Gemeinde. «Erst dann können wir sagen, ob einzelne Gemeinden, in denen es solche Übungsplätze gibt, stärker betroffen sind», sagt der mit der Studie betraute Arzt Gianni Vicario. Die Daten werden erst im Sommer verfügbar sein.  Seit Anfang Januar stellt auch ein Staatsanwalt Untersuchungen auf dem Ex-Schiessplatz von Dandolo an. Er soll klären, ob es dort erhöhte radioaktive Werte gibt. Finden wird er nichts, gibt Staatsanwalt Federico Facchi schon heute zu: «Wir haben grosse Zweifel daran, dass dort überhaupt mit uranabgereicherter Munition geschossen wurde. Und wenn, dann sind die Werte heute nicht mehr feststellbar.»

 Unterdessen meldet die Presse einen weiteren Leukämie-Fall eines italienischen Soldaten, der weder in Somalia, noch im Golfkrieg oder auf dem Balkan war. Lorenzo Michelini starb schon 1977, an einer "derart fulminanten Leukämie", wie die Ärzte damals seiner Familie sagten, "wie sie nur durch radioaktive Strahlen ausgelöst werden konnte." Lorenzo Michelini war während seines Wehrdienstes auf den Nato-Schiessplatz Perdasdefogu in Sardinien geschickt worden, um dort Patronenhülsen aufzusammeln. Nach drei Monaten Dienst brach die Krankheit aus, nach zwei Monaten war der damals 22jährige tot. Die Sarden haben seitdem noch eine Frage mit den Militärs offen: Übte die Nato schon in den 70er Jahren auf der Ferieninsel das Schiessen mit Uran-Munition?

ENDE