8 gennaio
FACTS SCHWEIZ
AUSLAND
Die Helden von Bijlmer
Unentwegt lehnten sich Bürger gegen die Lügen auf, mit denen die Ursachen der Flugkatastrophe in Bijlmer bei Amsterdam am 4. Oktober 1992 vertuscht wurden. Jetzt musste Israel zugeben, dass der abgestürzte El-Al-Jumbo Giftgasbestandteile mitführte. Das niederländische Parlament eröffnet eine Untersuchung.
http://www.facts.ch/stories/9841_aus_amsterdam.htm
Von Markus Haefliger

Man kann diesen Ton nicht beschreiben», sagt André Bos, und er sagt es so, dass dem Besucher noch sechs Jahre nach der Katastrophe im Amsterdamer Aussenquartier Bijlmer ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft. «Das Gebäude zitterte. Zehn Meter vor dem Balkon flog ein riesiger Schatten vorbei.» Augenblicke später stürzte die Boeing 747 der israelischen Fluggesellschaft El Al in einen Wohnblock, in dem zahlreiche Ausländer ohne gültige Papiere lebten. Mindestens 43 Menschen kamen ums Leben, wahrscheinlich waren es deutlich mehr. Genaues weiss man nicht.

Wie auch manches andere im Ungewissen geblieben ist beim Desaster von Bijlmer. Bald erschienen Berichte über rätselhafte Krankheiten, Geheimdienste und verschwundene Dokumente. Die Katastrophe wurde zur Affäre. Ein Blumentransport sei abgestürzt, verkündete El Al nach dem Unfall. Als Journalisten Raketenteile oder Spezialmunition vermuteten, wurden aus «Tulpen» «Maschinenteile». Letzte Woche publizierte die Tageszeitung «NRC Handelsblad» die bisher letzte Enthüllung: Laut einem Frachtdokument hatte der Jumbo drei von vier Chemikalien geladen, die zur Produktion des Giftgases Sarin verwendet werden. Israel bestätigte den Bericht.

Die Ladung ist nicht das einzige Rätsel. El Al 1862 hatte auf dem Flug nach Tel Aviv kurz nach dem Start am 4. Oktober 1992 zwei Triebwerke verloren. Weshalb kehrte die Maschine zum Flughafen Schiphol zurück, statt im Ijsselmeer notzuwassern? Jahrelang wurden Bewohner von Bijlmer, Ärzte, Journalisten und Politiker, die Antworten auf diese Fragen suchten, mit Lügen abgespeist. Im zehnstöckigen Wohnblock von André Bos bricht an jenem Sonntagabend vor sechs Jahren Panik aus. Bos zieht seinen Parka über und läuft zur Absturzstelle. Eine grosse Hitze geht vom Feuerball in der Lücke aus, die der Jumbo in das Wohnhaus gerissen hat. Bos bemerkt eine dichte Rauchwolke, die über der Umgebung liegt. Er hilft. Rennt von Wohnung zu Wohnung, evakuiert die erschrockenen Nachbarn. Seine Sorge gilt den Gasleitungen, die explodieren könnten.

Auch der Computer von André Bos ist wie vor Schreck erstarrt. Das Magnetfeld des Jumbos hat alle Daten von Bos’ Agentur für Busreisen gelöscht. Das und die Anfälle von Gedächtnisverlust, die ihn wenige Tage später erstmals befallen, stürzen ihn in den Bankrott. Seither ist er einer der Menschen, die nicht ruhen, bis Licht in die Bijlmer-Affäre kommt. André Bos kränkelt, das sieht jeder. Er ist bleich, bewegt sich zu langsam für einen 37-Jährigen. Seit der Katastrophe hat er 13 Kilo abgenommen. Er hustet; man glaubt ihm, dass es nicht vom starken Zigarettenkonsum kommt.

Von seinem Balkon aus überblickt er die Unfallstelle, wo heute nur noch ein Denkmal steht. Hat er die «weissen Männer» gesehen? Sie sind eines der Rätsel der Affäre. Laut Augenzeugenberichten sollen die in Schutzanzüge gehüllten Gestalten in der Unfallnacht in den Flugzeugtrümmern herumgestochert haben.

«Nein», sagt André Bos, «ich konnte sie nicht sehen.» Er zieht viel sagend die Augenbrauen hoch. Das macht er immer, wenn er ein Steinchen zum Mosaik fügt, das die Affäre vielleicht erklären und seinem Leiden einen Sinn geben kann. Nach seiner Hilfsaktion an der Absturzstelle hat man ihn nicht in seine Wohnung zurückgelassen. Alle Bewohner seines Blocks wurden in einer Notunterkunft versammelt. Bos sagt es nicht, aber er denkt es: Man wollte etwas verbergen. Das Wort «Verschwörung» spricht er nicht aus. Es ist ein Tabu. Wer es bricht, riskiert, selbst zur Zielscheibe zu werden.

Wie der Arzt Nizaarali Makdoembaks. Der Abkömmling indischer Einwanderer ist seit 15 Jahren Kassenarzt in Bijlmer. Freunde bewundern ihn, weil er arme Familien mit einem «Rezept» zum Bäcker schickt und diesen aus einer Wohlfahrtskasse bezahlt. Feinde halten ihn für einen Querulanten. Letztes Jahr entzog ihm die städtische Gesundheitsbehörde für drei Monate die Praxislizenz, weil er Berufskollegen, die sein Engagement in der Bijlmer-Affäre missbilligten, als «Rassisten» beschimpft hatte.

Seit sechs Jahren weist Dr. Makdoembaks auf die Zunahme von Krankheiten hin, die sich seit dem Absturz unter den Überlebenden im Wohnblock gehäuft haben: Früh- und Missgeburten, Unfruchtbarkeit, Erkrankung der Drüsen und der Atemwege, Ekzeme, Rheuma. Rund 200 Patienten, die glauben, ihre Leiden hätten mit dem Absturz zu tun, hat Makdoembaks behandelt, die Hälfte wegen psychischer Probleme. «Was für eine Antwort soll ich ihnen geben, wenn sie mich nach den Ursachen fragen?» Der 50-jährige Arzt ist zornig, weil die Behörden die Bewohner von Bijlmer «als Bürger zweiter Klasse behandeln».

Erst als eine schwedische Studie bei Anwohnern erhöhte Uranwerte im Stuhl nachwies, gab die niederländische Regierung im April dieses Jahres eine umfassende Untersuchung in Auftrag. Im Universitätsspital von Amsterdam haben sich seither 900 Patienten gemeldet, die ihre Leiden auf den Crash zurückführen. Darunter befinden sich 250 ausgebildete Hilfskräfte und Angestellte der holländischen Fluggesellschaft KLM, in deren Hangar Wrackteile gelagert wurden. Möglicherweise hat abgereichertes Uran, das in den Flügeln der Boeing 747 routinemässig als Ausgleichsballast verwendet wurde, zur Verseuchung geführt. Andere Indizien lassen auf heisse Ware im Laderaum schliessen. Was suchten die weissen Männer im Wrack? Zeugen sahen unmarkierte Helikopter, die bei der Absturzstelle landeten. El Al charterte eilends ein UPS-Frachtflugzeug, das noch im Morgengrauen nach Israel weiterflog. Der niederländische Reichsluftfahrtdienst (RLD) behauptete 1995, El Al habe die Frachtpapiere vollständig ausgehändigt. Als aber der Abgeordnete Rob van Gijzel Einsicht verlangte, fehlten Detailbelege für 37 der 115 Tonnen Fracht.

Sollte durch das Vertuschungsmanöver die Bedeutung des Amsterdamer Flughafens Schiphol für die israelische Armee verheimlicht werden? El Al ist nach KLM der grösste Kunde in Schiphol. Die Airline besitzt einen eigenen Hangar und kann dort «schalten und walten, wie sie will», sagt der Journalist Vincent Dekker von der Tageszeitung «Trouw». In den Niederlanden operieren 80 Agenten der israelischen Geheimdienste Mossad und Shin Beth – mehr als in jedem anderen europäischen Land. Manchmal genügt ein Ereignis, um das Misstrauen der Bürger gegenüber dem Staat zum Platzen zu bringen wie eine Eiterbeule. Bei Louis Bertholet trat dieses Ereignis am 14. September 1993 ein: Ein Beamter des Reichsluftfahrtdienstes teilte mit, man sei an seinen Fotos nicht interessiert. Bertholet ist Fotograf; er stellt seine «Träume» durch Fotomontagen von Wolkenbildern und Landschaften im Gegenlicht nach. Manchmal verkauft er einen «Traum»; manchmal fotografiert er für Lohn bei einer Hochzeit. Das Einkommen der Familie kommt von Mien Bertholet, einer Lehrerin. Zudem sind die Bertholets in Flugzeuge vernarrt. Am 4. Oktober 1992 steht der 15-jährige Sohn wie jeden Sonntag an der Strasse neben der Landebahn 06 und fotografiert jeden Flieger, der in Schiphol landet. So entstehen auch vier Aufnahmen des israelischen Frachtjumbos bei der letzten Landung vor dem Katastrophenflug.

An jenem Abend nach der «Tagesschau» rennen Vater und Sohn ins Labor und entwickeln die Bilder. Bertholet schickt die Abzüge an den Reichsluftfahrtdienst. Kann man sie vielleicht gebrauchen? Die abgebrochenen Triebwerke 3 und 4 sind gut sichtbar. Bertholet scheinen sie schmutzig zu sein, vielleicht ist es Rost. Mit freundlichen Grüssen, Louis Bertholet.

Ein halbes Jahr später, im April 1993, ein aufgeregter Anfruf von der Behörde: Auf Bertholets Foto ist erkennbar, dass Triebwerk 3, das als erstes abbrach und Triebwerk 4 mitriss, schief am Flügel hängt. «Vielleicht», sagt der Mann vom RLD, «können wir die Untersuchung jetzt ganz schnell abschliessen. Aber wir brauchen genauere Aufnahmen; können Sie uns bitte die Negative schicken?» Das tut Bertholet nicht, aber er schaut genauer hin. Und tatsächlich: Triebwerk 3 hängt schief. Fünf Monate später erhält er vom RLD Bescheid, der Fehler liege «innerhalb des Toleranzwertes». Bertholet kann es nicht fassen. Er verfeinert die Vergrösserungstechnik, sucht einen Luftfahrtexperten und einen Mathematiker auf und verfasst seitenlange Gegenexpertisen. Er fotografiert Hunderte von landenden Jumbos und ist bald überzeugt, dass El Al 1862 nie zum letzten Flug hätte starten dürfen. «Am Anfang stand ein Riesenpfusch», sagt Bertholet.

Flugzeughersteller, Airline und Flughafenbetreiber hätten ein Motiv, die Angelegenheit zu vertuschen. «Sie wollen Schadenersatzforderungen aus dem Weg gehen.» Seit fünf Jahren lebt Bertholet für die Wahrheit in der Affäre. Er hat mit den Bürgerinitiativen in Bijlmer Kontakt aufgenommen. Als das Universitätsspital von Amsterdam dieses Jahr Fragebogen für die Untersuchung der Bijlmer-Patienten entwirft, erreicht Bertholet, dass nicht nur Fragen zu psychosomatischen Beschwerden gestellt werden.

Auch die «verschwundenen Leichen» haben sein Interesse geweckt: Er geht Gerüchten nach, dass im Friedhof Bijlmer ein halbes Jahr nach der Katastrophe mehrere Dutzend namenlose Leichen begraben wurden, die nur «schwabblige Gallerte» gewesen seien. «Es ist wie im Film», sagt Bertholet. «The X Files.» Wer sechs Jahre lang Lügen aufgetischt bekommt, der glaubt am Ende alles. Auch die gefährlichen Schlaufen, die El Al 1862 nach dem Notruf des Piloten bis zum Absturz acht Minuten später flog, liessen die Untersuchungsbehörden durchgehen. Erfahrene Jumbo-Piloten dagegen bezeichnen sie als kriminell fahrlässig. Weshalb flog der israelische Pilot zur Notwasserung nicht ins ruhige Ijsselmeer, sondern versuchte verzweifelt, durch Rechtsschlaufen über dem dicht besiedelten Bijlmer und mit Rückenwind die Schiphol-Landepiste 27 zu erreichen? Nach Aussagen von Piloten, die der Journalist Dekker in seinem Buch «Going Down, Going Down»* zitiert, hatte das schwere Flugzeug «keine Chance», die Notlandung heil zu überstehen. Wurde der Flugkapitän zu seinem Kamikazeflug gezwungen? Im Cockpit flog eine vierte Person mit, eine israelische Lehrerin, die mit einem in Amsterdam stationierten Offizier des israelischen militärischen Geheimdienstes verheiratet war. War sie in offizieller Mission unterwegs? Der Voice Recorder könnte über die Gespräche im Cockpit Aufschluss geben. Er ist verschwunden. Auch andere Beweisstücke fehlen. Die Radaraufzeichnungen des Schiphol-Towers vom Abend des 4. Oktober 1992 wurden gelöscht.

Jahrelang nervte der Parlamentsabgeordnete Rob van Gijzel seine sozialdemokratischen Genossen, die in der Regierung sitzen, mit diesen und anderen Ungereimtheiten. Nach der Veröffentlichung des Hoekstra-Berichts, eines weiteren, nichts sagenden Regierungsberichts im letzten Juli, wurden Parlamentarier aller Parteien ungeduldig. Und als van Gijzel im September in Erfahrung brachte, dass der niederländische Inland-Geheimdienst BVD einen Bericht zur Affäre unter Verschluss hielt, platzte ihnen der Kragen. Nun findet van Gijzels Forderung einer parlamentarischen Untersuchung breite Zustimmung. Erstmals werden Beamte unter Eid aussagen und alle Dokumente auf den Tisch legen müssen. «Wir werden nie die ganze Wahrheit erfahren», glaubt van Gijzel, «aber wir werden wesentlich mehr wissen als jetzt.»

Israel

Gefährliche Fracht Letzte Woche veröffentlichte die Amsterdamer Tageszeitung «NRC Handelsblad» ein bisher unbekanntes Frachtdokument. Danach führte der Unglücksflug El Al 1862 drei von vier Chemikalien an Bord, die für die Produktion des Nervengases Sarin benötigt werden. Die Lieferung war für das biologische Forschungsinstitut im israelischen Nes Ziona nahe Tel Aviv bestimmt. Es wurde oft im Zusammenhang mit der Produktion von Giftgas genannt. Während israelische Stellen frühere ähnliche Enthüllungen dementiert hatten, bestätigte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu diesmal den holländischen Bericht. Die israelische Fluggesellschaft El Al behauptet allerdings, Den Haag sei seit Jahren über den Inhalt der Fracht informiert gewesen. «Vielleicht hatten die Holländer kein Interesse an einer Veröffentlichung», meinte ein El-Al-Sprecher.

 Bevölkerung stimmt zu Während die Sarin-Spur in Holland Schlagzeilen machte, regte sich in Israel niemand darüber auf. Israel hat die Herstellung von C- oder B-Waffen nie offiziell zugegeben, genauso wenig wie den Besitz von nuklearen Sprengsätzen. Argument: Im Nahen Osten herrsche ein «Gleichgewicht des Schreckens». Israel sei von Nachbarn umgeben, die ebenfalls mit unkonventionellen Waffen drohten. Die Bevölkerung stimmt dieser Politik zu. Auch die Nachrichten aus Holland sind kein Anlass für eine Diskussion über die Moral der Geheimdienste. Niemand zweifelt an der Notwendigkeit solcher Aktionen – auch wenn ein Partnerland wie Holland in Mitleidenschaft gezogen wird.

Gisela Dachs